LESEPROBE

 

„Moin, Chef“, begrüßte Kriminalkommissarin Mirja Sommer ihn am Montagmorgen, als er ihr gemeinsames Büro betrat. „Gute Nachrichten: Letzte Nacht wurde der Kerl, der ständig auf der westlichen Höhe einbricht, auf frischer Tat ertappt. Und das Beste ist, er hat sämtliche Taten gestanden.“

Sein „Großartig“ fiel knapp aus. Mürrisch entledigte er sich seines Parkas und hängte ihn an den spillerigen Garderobenständer.

Die junge Kommissarin sah auf. „Welche Laus ist Ihnen denn über die Leber gelaufen?“

„Wieso?“, fragte er gereizt. „Ich bin prächtiger Stimmung!“

„Davon hat Ihr Gesicht offenbar noch nichts mitbekommen. Ärger zu Hause?“

„Aber woher denn?“ Er blitzte Mirja auf dem Weg zu seinem Schreibtisch an.

„Nur weil die kleine Rotzgöre, die bei uns wohnt, plötzlich eine Haarfarbe hat, die an einen Karibik-Cocktail erinnert, und Daniela mir die Schuld dafür gibt? Ich bitte Sie!“

Als seine Lebensgefährtin am Samstagnachmittag nach Hause gekommen war, hatte Carsten sofort gesehen, dass es in ihr brodelte wie in einem Vulkan kurz vor dem Ausbruch. Ihm hatte sie lediglich einen finsteren Blick zugeworfen und war – ohne sich vorher die Jacke oder die Schuhe auszuziehen, was ein schlechtes Zeichen war – sofort und zwei Stufen auf einmal nehmend ins Obergeschoss geeilt.

Sekunden später wurde er unfreiwilliger Zeuge einer weiteren lautstarken Mutter-Tochter-Auseinandersetzung, inklusive Türenknallen und lautem Geheule von Seiten Antonias.

Die mütterliche Ansage kam natürlich zu spät, das Haar ihres Nachwuchses leuchtete bereits wie ein Blaulicht im Einsatz.

Später bekam auch er sein Fett weg, weil er sich gegen Toni nicht durchgesetzt und die ‚völlig idiotische Aktion‘ nicht verhindert hat. Natürlich hatte er versucht, sich zu verteidigen, doch ohne Erfolg.

Seitdem war Daniela ungefähr so zugänglich wie ein Kaktus, und Antonia schmollte schweigend vor sich hin. Da der Auslöser der ganzen Angelegenheit – die blauen Haare – allgegenwärtig war, änderte sich daran auch nichts. Die Stimmung im Haus war daher mit frostig noch schmeichelhaft umschrieben.

„Welcher Cocktail?“, fragte Mirja nun, und riss ihn damit aus seinen unschönen Erinnerungen.

Stirnrunzelnd sah er zu ihr hinüber. „Wie bitte?“

„Wie welcher Cocktail sieht Antonias Haar aus?“

„Na, dieser giftig blaue, ich weiß nicht, wie der heißt.“

„Ah, Sie meinen wohl einen ‚Swimmingpool.‘“ Mirja grinste. Doch der fröhliche Ausdruck verschwand sofort wieder, als sie Andresens finsteren Blick auffing. Sie räusperte sich. „Ich hoffe, es war nur eine Tönung.“

Er zog sein Handy aus der Hosentasche und legte es wie jeden Morgen auf seinen Schreibtisch. „Wieso?“

„Na, weil sich eine Tönung nach einigen Haarwäschen wieder verflüchtigt. Wenn Antonia sie aber richtig gefärbt hat, muss das Haar erst wieder rauswachsen. Das dauert. Und meistens sieht es ziemlich schei…, äh, unvorteilhaft aus, wenn die Originalfarbe sich langsam durchsetzt. Dann ist man zweifarbig, sozusagen. Oben normal, unten – in diesem Falle - blau.“

Andresen ließ sich stöhnend in seinen Bürosessel fallen, der schnaufend gegen diese Behandlung protestierte. „Ich habe keine Ahnung, ob sie gefärbt oder getönt hat, und im Moment ist es mir auch egal. Von mir aus kann sie gerne herumlaufen wie eine schlechte Comiczeichnung. Lassen wir jetzt diese nervtötenden Haarspaltereien, und widmen uns unserer Arbeit, okay?“

„Von mir aus.“ Mirja stand auf und reichte ihm einen Aktenhefter. „Hier, die Unterlagen zur Einbruchsserie.“

„Danke.“

„Guten Morgen!“, ertönte es fröhlich von der Tür. Die Köpfe von Andresen und Mirja drehten sich herum.

„Morgen, Lutz“, sagte Mirja lächelnd.

„Moinsen“, grummelte Andresen.

Lutz Weichert, seines Zeichens Oberkommissar, zog seine knallrote Jacke aus und hängte sie über die Lehne seines Bürosessels. „Sind Sie noch genervt wegen der Köln-Pleite?“, erkundigte er sich bei seinem Chef. „Das Spiel gegen Lemgo war doch in Ordnung.“

Andresen zog die Stirn kraus. Die Leistungen der SG Flensburg-Handewitt im Final-Four des DHB-Pokals, die ebenfalls dazu beigetragen hatten, sein Wochenende zu versauen, hatte er schon wieder verdrängt.

„Das Debakel am Samstag hat mich tatsächlich genervt“, gab er zu, „doch darum geht es hier nicht.“

„Worum denn dann?“

„Der Einbrecher, der uns zuletzt so intensiv beschäftigt hat, wurde endlich geschnappt“, berichtete Mirja, „und Antonia hat neuerdings blaue Haare.“

Lutz Weichert stutzte. „Blaue Haare? Wieso denn das?“

„Verdammt gute Frage“, murmelte Andresen. „Vermutlich, weil der gesunde Menschenverstand bei Teenagern erst noch heranreifen muss, der schlechte Geschmack dagegen bereits sehr ausgeprägt ist.“

Das Telefon klingelte und Mirja hob ab.

Auf Weicherts Gesicht erschien ein verträumtes Lächeln, sein Blick schweifte in die Ferne. „Ich habe mir mit sechzehn die Haare mal rostrot gefärbt. Meine Eltern sind auch ausgeflippt, aber ich fand es cool.“

„Ich bin nicht ausgeflippt“, stellte Andresen klar. „Mir ist im Grunde wurscht, wie Antonia herumläuft. Daniela allerdings war alles andere als begeistert.“

„Und hat Sie das spüren lassen“, ahnte Weichert.

Mirja legte den Hörer auf. „Chef, es gibt Arbeit. An dem See in der Marienhölzung wurde eine Leiche gefunden.“

Andresen horchte auf. „Am Schwanenteich?“

„Nee, an dem anderen. Dem Wolfsmoor.“

„Wolfsmoor?“, wiederholte Weichert. „Klingt gruselig.“

„Als Junge bin ich dort Schlittschuh gelaufen“, erinnerte sich Andresen.

Das waren herrliche Wintertage gewesen. Er sah wieder Petra vor sich, die so tolle Pirouetten drehen konnte, und ihm zulächelte, wenn er -

„Die Leiche wurde nackt und ohne Kopf geborgen“, berichtete Mirja und ließ damit die Bilder aus Andresens Vergangenheit wie Seifenblasen platzen. „Der Täter hat sie in einer Mülltüte regelrecht entsorgt. Bisher steht lediglich fest, dass es sich um eine ältere Frau handelt.“

 

„Na, dann sollten wir uns die mal ansehen“, meinte er lustlos und erhob sich. „Kommen Sie, Weichert, ziehen Sie ihr Clownsjackett wieder an, wenn Sie glauben, dass Sie dem Anblick einer Leiche ohne Kopf gewachsen sind.“

 

Leseprobe Ende

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