Prolog
Januar 1987
Der gusseiserne, auf den ersten Blick filigran wirkende Kerzenständer traf mit Schwung seinen Hinterkopf und erzeugte dabei einen dumpfen Laut. Und ein leises Knacken.
Er sagte nichts mehr, stöhnte nur kurz auf.
Seine Beine knickten ein, als hätte der Schlag auf magische Weise sämtliche Knochen aus seinen Gliedmaßen entfernt. Lautlos sackte er in sich zusammen und landete auf dem Perserteppich.
War endlich still.
Der Kerzenständer glitt aus der kraftlos gewordenen Hand. Es landete nicht weit entfernt von dem leblosen Körper auf dem Teppich, der auch diesen zweiten Aufprall dämpfte.
Ein dicker, teurer Teppich. Ein leiser Tod.
Aus der Wunde am Kopf sickerte ein wenig Blut. Es verschmolz mit dem roten Muster, war im schummrigen Schein der Stehlampe kaum zu erkennen.
Wenig später erlosch das Licht. Die Wohnungstür öffnete sich einen Spaltbreit. Im finsteren Treppenhaus war es ruhig. Aus der Wohnung nebenan war eine Melodie zu hören. Der Fernseher. Die Sesamstraße war zu Ende.
Schüchtern klackte die Tür ins Schloss. Schritte eilten lautlos die Stufen hinunter und verharrten wenige Herzschläge später draußen auf dem Eingangspodest. Das Geräusch der von allein zufallenden Haustür klang in der Stille lauter, als es eigentlich war.
Kleine, hastige Atemwölkchen erschienen und lösten sich in Sekunden auf, als hätte es sie nie gegeben. Ein kurzer Blick in beide Richtungen, erleichtertes Aufatmen. Kaum jemand war unterwegs bei dieser Kälte. Nur an der Straßenecke, rechts vom Haus, führte ein Mann seinen Rauhaardackel spazieren.
Der kleine Hund hob sein Bein an einem Parkverbotsschild. Sein Herrchen bemerkte nicht, dass jemand aus dem Haus trat, mit gesenktem Kopf in die andere Richtung ging und mit der Schwärze des sterbenden Tages verschmolz.
Kapitel 1
Kriminaloberkommissar Carsten Andresen sah von den Unterlagen auf, die vor ihm auf dem Schreibtisch lagen, als sein junger Kollege „Na, das ist ja super“, brummte und seinen Becher mit Ingwertee abstellte.
„Was denn?“, fragte er, mehr pflichtschuldig als neugierig.
Kriminalkommissar Lutz Weichert schlug mit der flachen Hand auf den Bericht der Toxikologie. „Auf den Weingläsern befinden sich DNA-Spuren, doch in der Datenbank gibt es keine Übereinstimmung.“
„Alles andere wäre ja auch zu schön gewesen. Welcher Fall?“
„Alexander Hoffmann, 1987.“
Andresen sah auf die Uhr. In einer knappen halben Stunde war er mit seiner Tochter Desirée in dem italienischen Restaurant „San Marco“ in der Flensburger Innenstadt verabredet. Sie hatte große Neuigkeiten angekündigt.
Er lehnte sich zurück. „Alexander Hoffmann? Sagt mir nichts, erzählen Sie mal. Aber fassen Sie sich kurz, ich hab noch was vor.“
Weichert nickte. „Verstehe. Also, der Mann wurde am sechzehnten Januar in seiner eigenen Wohnung von hinten mit einem gusseisernen Kerzenleuchter erschlagen. Die Nachbarn haben nichts gesehen oder gehört, es gab weder Streit noch Kampfgeräusche. In der Wohnung wurden auch kaum Spuren gefunden. Bis auf die beiden Weingläser. Auf beiden waren ausschließlich die Fingerabdrücke des Opfers, auf einem jedoch waren sie verwischt und nur schwer zu identifizieren. Ich habe die Gläser aus der Asservatenkammer holen und toxikologisch untersuchen lassen. Die Kollegen fanden auch tatsächlich DNA-Spuren. Sie konnten aber, wie gesagt, nicht zugeordnet werden.“
Andresen runzelte nachdenklich die hohe Stirn. „Gab es Verdächtige?“
Weichert schüttelte den Kopf. „Das war das größte Problem. Der Mann war friedlich geschieden, allseits beliebt und auch mit seinen Kollegen verstand er sich ausgezeichnet. Mit einer Dame aus seinem Betrieb war er seit einiger Zeit liiert, laut ihrer Aussage gab es zwischen ihr und dem Opfer keinerlei Probleme. Das wurde von den anderen Kollegen bestätigt. Auch mit den Nachbarn kam er offenbar gut aus. Dennoch muss er seinen Mörder gekannt haben, denn Hoffmann hat ihn nach derzeitigem Kenntnisstand selbst in die Wohnung gelassen.“ Weichert lehnte sich ausatmend in seinem Sessel zurück und verschränkte die schlaksigen Arme. „Der Fall ist eine verdammte Sackgasse.“
„Hoppla, ich wusste gar nicht, dass Sie fluchen können“, amüsierte sich Andresen, dann wurde er wieder ernst und beugte sich vor. „Er war geschieden? Was ist mit der Exfrau?“
Weichert schüttelte den Kopf. „Sie hatte ein Alibi und kein Motiv. Die Scheidung war einvernehmlich, bereits mehrere Monate her und zwischen den beiden war die Stimmung freundschaftlich. Das wurde ebenfalls von mehreren Kollegen des Opfers bestätigt.“
„Sie können vielleicht erwirken, dass die Personen, mit denen dieser …“
„Alexander Hoffmann.“
„Richtig. Also, dass alle Kollegen, Nachbarn, Freunde und so weiter aufgefordert werden, eine Speichelprobe abzugeben. Möglicherweise ist der Mörder doch unter ihnen.“
Weichert schnalzte mit der Zunge. „Ich habe so meine Zweifel, dass das bewilligt wird.“
„Sie können die Untersuchung ja auf diejenigen beschränken, die kein hundertprozentiges Alibi hatten“, schlug Andresen vor.
„Versuchen kann ich es.“ Sein Kollege nahm sich ein Blatt Papier und einen Stift. „Danke für den Rat.“
„Nicht dafür.“
Auf Weicherts Schreibtisch klingelte das Telefon. Er legte den Stift wieder zur Seite und hob den Hörer ans Ohr.
„Kriminalpolizei Flensburg, Weichert. Ach, du bist es. Morgen Abend? Ja, das passt mir. Ich koche uns etwas Schönes. Gegen acht? ... Schatz, sei mir nicht böse, aber ich habe zu tun. Du kannst mir alle Neuigkeiten aus dem Reitstall doch auch morgen erzählen. Was wir machen? Ach, wir überprüfen alte, ungelöste Fälle darauf, ob die seinerzeit gefunden Spuren aufgrund der fortgeschrittenen Technik auf DNA-Rückstände geprüft und entsprechend neu ausgewertet werden können ... Wie bitte? Was heißt hier geschwollenes Polizistengebrabbel? Entschuldige, aber du hast schließlich gefragt. Ja, bis morgen. Tschüs.“ Er legte auf. „Das war Verena.“
„Um das zu kombinieren, muss ich nicht einmal Kommissar sein“, brummte Andresen.
Er schaltete seinen Computer aus und stand auf. „Ich mache dann mal Feierabend. Bei mir gibt’s heute italienisch.“
„Mal wieder ein kulinarisches Zusammensein mit dem Töchterchen?“
„Richtig geraten. Schönen Abend noch!“ Andresen schnappte sich seine Jacke vom Garderobenhaken und verließ das Büro.
Er beschloss, die kurze Strecke zu Fuß zurückzulegen, schließlich zeigte sich das Wetter derzeit von seiner schönsten Seite, obwohl bereits der September vor der Tür stand. Abgesehen davon war es fast unmöglich, in der Nähe des Restaurants einen kostenfreien Parkplatz zu ergattern. Eine entsprechende Suche würde mindestens so lange dauern wie der kurze Spaziergang.
Die Polizeidirektion lag an den Norderhofenden. Von der Frontseite aus konnte man direkt zur Hafenspitze hinübersehen, die um diese Jahreszeit meist bevölkert war. Kinder tobten auf dem Spielplatz, junge Leute saßen in oft ausgelassener Stimmung auf den Treppen direkt am Wasser, die etwas älteren bummelten an der Uferpromenade entlang oder genossen ein maritimes Abendessen auf den Sonnenterassen der dort befindlichen Restaurants.
Andresen hätte auch gern dort gegessen, doch Desirée bevorzugte italienische Küche. Also bog er bei dem vor kurzem eröffneten Hotel ‚Alte Post‘ rechts ab in die Rathausstraße. Genau hier, an dieser Ecke und in luftiger Höhe im ersten Stock erinnerte, so wusste Andresen, eine Hermes-Statue an den ursprünglichen Zweck dieses herrschaftlichen und imposanten Gebäudes. Der Götterbote war als Briefträger ausgestattet, samt Umhängetasche und zuzustellenden Päckchen.
Eigentlich müsste er umgekleidet werden, dachte Andresen schmunzelnd. Er bräuchte nun die Livree eines Hotelpagen.
Auf dem groben Kopfsteinpflaster rumpelten die Autos an Andresen vorbei. Beim traditionsreichen Spielzeuggeschäft Brüning bog er rechts in die Große Straße ein, wo es gleich etwas ruhiger war. Dieser Teil der Flensburger Einkaufsstraße kam bisher ohne große Kaufhäuser oder Passagen aus. Es dominierten kleine Läden, Fachgeschäfte und Bistros, was die Große Straße gemütlicher und weniger hektisch erscheinen ließ als den stärker frequentierten Holm, der links von der Rathausstraße abging.
Das von Desirée ausgesuchte Restaurant befand sich nicht weit entfernt vom Nordermarkt, der in der warmen Jahreszeit beinahe südeuropäisches Flair ausstrahlte. Das sommerliche Wetter lockte die Menschen in die umliegenden Staßencafés, um bei einem Bier oder einem Glas Wein den Tag ausklingen zu lassen und die letzten Sonnenstrahlen zu genießen.
Sein erstes Bier hatte Andresen bereits fast ausgetrunken, als Desirée endlich in der Tür des „San Marco“ erschien und auf ihn zukam. Andresen stand auf, nahm sie in den Arm und ließ sich einen schnellen Kuss auf die Wange hauchen.
„Boah, du kratzt ja heute wieder mächtig, Paps. Rasier dich bloß mal.“
„Bei Gelegenheit.“
Sie hängte ihre knallrote dünne Jacke über die Stuhllehne und setzte sich. „Hast du mir schon was zu Trinken bestellt?“
„Ich wusste doch nicht, was du möchtest.“
„Na hör mal, ich nehme doch jedes Mal Cola, wenn wir hier sind.“
„Wirklich? War es nicht letztes Mal eine Spezi?“
„Bestimmt nicht.“ Desirée griff nach der Karte und ließ ihren Blick über die Menüauswahl schweifen. „Ich glaube, heute nehme ich eine Hawaii-Pizza.“
Andresen winkte nach dem Kellner, der Sekunden später mit gezücktem Block neben ihrem Tisch stand.
„Wir hätten gern eine Hawaii-Pizza für die junge Dame und eine Funghi für mich. Außerdem noch ein großes Bier und eine Co…“
„Und eine Spezi“, unterbrach ihn Desirée.
Andresen hob eine Augenbraue. „Ach was!“
Seine Tochter grinste nur.
Als sie wieder allein waren, lehnte Andresen sich bequem zurück. „Also, was gibt es für Neuigkeiten?“
„Versprich mir erst, dass du nicht ausflippst, Papa.“
Alarmiert sah er sie an. „Bist du etwa schwanger?“
(LESEPROBE ENDE)