Kurzgeschichte des Monats

An dieser Stelle werdet ihr zukünftig jeden Monat eine neue Kurzgeschichte finden. 

 

Ein Wiedersehen ist das Thema der September-Geschichte. Es findet am Flensburger Hafen statt, und es ist gar nicht sicher, ob dieses Zusammentreffen gut ausgehen wird ...

Aber lest selbst!

 

Ankerplatz

Am Hafen, nicht weit vom Dampfschiff „Alexandra“ entfernt, steht eine Bank. Ich setze mich hin, denn mein Knie schmerzt mal wieder und drängt auf eine Pause. Zum wiederholten Mal schaue ich auf meine Armbanduhr. Der Minutenzeiger rückt unaufhaltsam vorwärts, und je näher er der Zwölf kommt, desto mehr verkrampft sich mein Magen. Nervös schaue ich mich um, betrachte jeden, der in mein Sichtfeld kommt. Aber keiner von ihnen ist der Mann, auf den ich warte.
Die „Alex“, die beliebte Flensburger Sehenswürdigkeit, dümpelt friedlich vor sich hin. Auf Deck ist niemand zu sehen. Sie ist noch um einiges älter als ich, hat die Hundert längst geschafft. Ich brauche dafür noch rund dreißig Jahre, aber ob ich die schaffe …? Vermutlich nicht.
Als mein Blick erneut nach rechts wandert, bleibt mein Herz stehen und fängt dann jäh an zu rasen. Da ist er! Obwohl mein Knie nach wie vor schmerzt und ich mich seltsam schwach fühle, stehe ich, mich mit einer Hand an der Rückenlehne abstützend, langsam auf und schaue ihm entgegen. Wage ein Lächeln. Seine Miene ist ernst. Nicht das kleinste Anzeichen von Freude kann ich ausmachen, und mir wird flau vor Unbehagen.

War dieses Treffen eine gute Idee?
Er sieht fast genauso aus wie auf dem Foto, auf das ich vor kurzem zufällig im Internet gestoßen bin, nur dass er weder Anzug noch Krawatte trägt, sondern ein hellblaues Polohemd. In jenem Moment, als ich sein Anzugbild sah, wusste ich, wer er ist. Und dass ich Kontakt zu ihm aufnehmen muss. Also schrieb ich ihm eine E-Mail und schlug vor, dass wir uns auf einen Kaffee treffen. Drei Tage wartete ich vergeblich auf eine Antwort. Als ich nicht mehr damit rechnete, landete seine E-Mail in meinem virtuellen Briefkasten.

Er sei mit einem Kennenlernen einverstanden, würde mich aber lieber an einem allgemeinen Ort treffen. Ich ahnte, wieso er darauf Wert legte. Er wollte sich die Möglichkeit offenlassen, ohne großes Aufsehen verschwinden zu können, wenn ihm danach war. Wollte sich nicht verpflichtet fühlen, aus Höflichkeit zu bleiben.

Ich verstand das und schlug den Ankerplatz der ‚Alex‘ vor.

Als er zusagte, fiel mir ein Stein vom Herzen.
Und nun steht er vor mir. Groß, breitschultrig, in heller Leinenhose.
„Paul“, flüstere ich. Meine Stimme klingt wie ein Krächzen.
Seine Miene bleibt ausdruckslos. „Hallo.“
Wir setzen uns. Schweigen uns an. Ich weiß nicht, wie ich anfangen soll, in mir sind so viele Fragen, so viele zurechtgelegte Sätze. Doch nun haben sie sich alle aufgelöst und in meinem Kopf ist nur noch ein kunterbunter Buchstabensalat.
Schließlich räuspere ich mich. „Danke, dass du extra von Föhr hergekommen bist. Hattest du eine angenehme Überfahrt?“
Er nickt nur. Betrachtet die „Alexandra“.
Paul verachtet mich, wird mir klar. Für das, was ich getan habe. Und ich kann es ihm nicht verdenken, aber ich möchte es ihm so gern erklären. Also wage ich einen Versuch.
„Du möchtest bestimmt gern wissen, warum ich damals –“ Ich breche ab, weiß nicht weiter. Wie kann man das, was ich ihm angetan habe, in Worte fassen?
„Ich will nur eins wissen“, sagt er. „Wer war mein Vater?“

Er sieht mich noch immer nicht an. Seine Distanziertheit tut mir weh, aber ich akzeptiere sie schweren Herzens. Was bleibt mir auch anderes übrig?
„Er war ein US-Soldat“, antworte ich tonlos. „Sein Name war William Stewart. Aber alle nannten ihn Billy. Er war in der Briesenkaserne stationiert. Wir lernten uns an einem Wochenende in der Disco kennen. Ich war fasziniert von ihm, von seiner Ausstrahlung, seiner Lebensfreude. Wir habe die ganze Nacht getanzt.“

Bei der Erinnerung an jenen Abend muss ich unwillkürlich lächeln. Es war ein schöner, ein fröhlicher Abend. Billy und ich waren ausgelassen, tranken zu viel und fanden uns auf Anhieb sympathisch.

Ich betrachte Paul von der Seite. „Du siehst ihm unglaublich ähnlich“, sage ich.
„Das hast du schon geschrieben.“
„Ach ja. Entschuldige.“
„Schon gut.“
Wieder schweigen wir. Dann nehme ich all meinen Mut zusammen. „Wir verbrachten eine unbeschwerte Zeit miteinander, doch nach rund zwei Wochen endete unsere Beziehung. Die Luft war raus, wie man so sagt. Einige Zeit später merkte ich, dass ich schwanger war. Ich war erst sechzehn, ging noch zur Schule. Ein Kind wäre unter diesen Umständen auch heute nicht gerade ein Anlass zum Jubeln, doch in den frühen Siebzigern war eine uneheliche Schwangerschaft eine Katastrophe.“
Er reagiert nicht, also spreche ich weiter.
„Meine Eltern waren entsetzt. Immerhin haben sie mich nicht verstoßen, dafür war ich dankbar. Aber sie beschworen mich, die ‚Schande‘, wie es nannten, so lange wie möglich zu verbergen. Das tat ich auch. Und als es nicht mehr ging, meldeten sie mich in der Schule krank und schickten mich zu meiner Tante nach Föhr. Dort blieb ich, bis du auf der Welt warst.“
„Und dann hast du mich einfach weggegeben“, schließt er meinen Bericht ab. Seine Stimme trieft vor Bitterkeit.
Ich drehe mich auf der Bank zu ihm. „Ich wollte das nicht!“, versichere ich ihm. „Wirklich nicht. Aber alle redeten auf mich ein, meinten, es wäre das einzig Vernünftige. Und ich würde einem kinderlosen Paar etwas Gutes tun.“

Ich seufze langanhaltend. „Sie haben mich so lange bearbeitet, bis ich mürbe wurde und diesen Wisch unterschrieb.“ Traurig schaue ich Paul an. „Es gab nicht einen einzigen Tag, an dem ich das nicht bereut habe. Doch ich redete mir ein, dass es für dich das Beste war. Was hätte ich dir schon bieten können, Schulkind, das ich war? Ich hätte die Schule abbrechen können, aber wovon hätten wir leben sollen? Ohne Abschluss und mit Baby hätte ich keine vernünftige Arbeit bekommen. Also blieb mir nichts übrig, als zu hoffen, dass du irgendwann verstehen würdest, warum ich so gehandelt habe. Und dass du bei deinen neuen Eltern ein gutes Leben haben würdest.“
„Was war mit meinem Vater?“ Paul wendet mir sein Gesicht zu, und mich schaut eine ältere Ausgabe des damals so jungen Billy an. Nur ohne das unbekümmerte Grinsen. „Wieso hat er dich nicht unterstützt?“, will Paul wissen.
„Der Kontakt zwischen uns war abgebrochen, das sagte ich ja schon. Aber ich wollte es ihm natürlich sagen. Dann erfuhr ich, dass er zurück in die USA beordert worden war. Eine Adresse konnte oder wollte man mir nicht sagen.“
Paul starrt mich an. „Das bedeutet, er weiß bis heute nicht, dass es mich gibt?“
Ich schüttele den Kopf. Paul schweigt, dann sagt er: „Es war sicher hart, so auf sich allein gestellt zu sein.“
„Leicht war es nicht“, bestätige ich. „Aber sag mir: Wie ist es dir ergangen?“

Er hebt abwehrend die Schultern. „Ganz gut eigentlich, jedenfalls für ein adoptiertes Kind. In der Schule wurde ich gehänselt, doch das hörte irgendwann auf.“ Er dreht sich zu mir um. „Mein Leben lang, seit ich wusste, dass Rita und Johannes nicht meine leiblichen Eltern sind, habe ich dich verachtet, für das was du mir angetan hast. Gehasst habe ich dich, obwohl ich dich nicht kannte. Und ich bin eigentlich nur hierhergekommen, um dir das zu sagen. “
Obwohl er die Stimme gesenkt hat, habe ich das Gefühl, jemand drückt mein Herz zusammen. Es tut furchtbar weh, das zu hören. Traurig verschränke ich meine Hände im Schoß, schaue auf sie hinab.

„Jetzt aber“, sagt Paul, „nachdem du mir gesagt hast, was damals passiert ist, muss ich zugeben, dass ich dir eigentlich dankbar bin.“
Mein Kopf ruckt überrascht hoch. „Dankbar?“
„Ja. Rita und Johannes waren wunderbare Eltern. Sie haben mich geliebt, mich umsorgt und unterstützt. Ich hatte eine schöne Kindheit bei ihnen.“
„Die ich dir niemals hätte bieten können“, füge ich leise hinzu.
„Nein“, sagt er, „wahrscheinlich nicht.“
„Aber geliebt habe ich dich auch“, sage ich sanft. „All die Monate, in denen du in mir herangewachsen bist, habe ich nichts anderes als Liebe für dich empfunden.“
Seine Augen haben die Kälte, die anfangs in ihnen lag, verloren. Ich bin froh und erleichtert darüber.

„Durftest du mich wenigstens, na ja, auf dieser Welt begrüßen?“
Ich nicke. „Als du da warst, legte die Hebamme dich in meine Arme. Sie war spontan eingesprungen und wusste nichts von den Adoptionsplänen, erfuhr ich später. Sonst hätte sie das wohl nicht getan.“ Ich schaue ihn an. „Du warst ein hinreißendes Baby. Mit riesigen dunklen Augen, die mich voller Vertrauen ansahen. Diese wenigen Minuten mit dir habe ich nie vergessen. Als ich dich dann gehen lassen musste, brach es mir das Herz.“ Ich schlucke, dränge die Tränen zurück, die hinter meinen Lidern brennen. „Das klingt pathetisch“, sage ich entschuldigend, „aber es stimmt.“

„Ich kann mir vorstellen, dass das furchtbar gewesen sein muss.“

„Und doch war diese kurze Zeit mit dir der wertvollste Moment meines Lebens.“ Leise füge ich hinzu: „Seit heute gibt es einen weiteren denkwürdigen Moment für mich. Danke, dass du gekommen bist und dir das alles angehört hast.“

„Ich denke, es war wichtig – für uns beide.“ Er schlägt sich mit beiden Händen auf die Oberschenkel. „Jetzt ist mir doch nach Kaffee. Einem schönen Milchkaffee. Und einem Stück Torte. Ich lade dich ein.“
Bei dem Wort Milchkaffee muss ich schmunzeln, denn seine Haut hat exakt die Farbe von Milchkaffee. „Ich kenne ein Café, da bekommt man eine fantastische Trümmertorte“, sage ich.
Er steht auf. „Nichts wie hin! Und bei Kaffee und Torte erzähle ich dir von meinen Kindern.“

Wie erstarrt bleibe ich sitzen, schaue zu ihm hinauf. „Ich habe Enkelkinder?“
„Natürlich. Drei, um genau zu sein. Und eine Urenkelin. Die Kleine heißt Sarah und ist zwei Jahre al.“ Er reicht mir seine Hand, zieht mich von der Bank in die Höhe. Ich bin von den Neuigkeiten noch ganz überwältigt. „Ich würde deine Familie sehr gern kennenlernen“, sage ich.

 

Er lächelt mich an. „Unsere Familie.“ 

 

ENDE